
Der Wille, zu verstehen
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Prof. Andreas Diefenbach leitet seit 2016 das Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité. Sein Weg führte ihn über Berkeley und New York, später Freiburg und Mainz nach Berlin. Vor allem beschäftigt ihn das angeborene Immunsystem und die Frage, wie es Infektionserreger oder auch Krebszellen erkennt und wie diese Mechanismen zur Therapie von Tumoren eigesetzt werden können. Er gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern seines Faches. Denn 2008 gelang ihm mit seinem Team eine Entdeckung, die seither zu wesentlichen Einsichten in Funktionen des Immunsystems beiträgt. Ein Zufallsfund, ermöglicht durch Neugier und Offenheit. Nun will er dahinterkommen, was den Menschen gesund erhält und welche Rolle dabei das Immunsystem spielt.
Herr Diefenbach, „Zukunft“ ist ein großes Wort. Dennoch die Frage: Wie sieht aus Ihrer Sicht die „Medizin der Zukunft“ aus?
Derzeit gibt es einen Konsens in der Gesellschaft, ein Konzept von moderner Medizin, der sich vor allem der Aufklärung von Mechanismen widmet, die Krankheiten verursachen und antreiben. Dieser fast exklusive Fokus auf das Studium von Krankheiten und Krankheitsmechanismen stößt zunehmend an Grenzen. In der Zukunft, so denke ich, werden wir uns Herausforderungen stellen müssen, die größtenteils durch den Wandel unserer Gesellschaft und damit dem Wandel des vorherrschenden Spektrums von Krankheiten bedingt sind. Ein Aspekt ist dabei, dass wir es mit einer älter werdenden Gesellschaft zu tun haben und zunehmend mit sich chronisch entwickelnden Erkrankungen.
In den letzten einhundert Jahren haben vor allem sogenannte immunvermittelte entzündliche Erkrankungen stark zugenommen. Das sind einerseits Allergien, aber auch chronisch-entzündliche Erkrankungen. Dieser Begriff ist sehr weit gefasst und schließt nicht nur Erkrankungen wie Gelenkrheumatismus, Multiple Sklerose oder die Autoimmunerkrankung Lupus Erythematodes ein, sondern auch Krebs und Entzündungen des Herz-Kreislauf-Systems. Mittlerweile gibt es gute epidemiologische Daten, die zeigen, dass einige Formen von Krebs stark entzündungsgetrieben sind und beispielsweise die langfristige Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten die Rate von Krebserkrankungen senken kann.
Ein weiterer Komplex betrifft Stoffwechselerkrankungen, die alle auch eine Entzündungskomponente haben. Eine hohe Aufnahme fettreicher, kohlenhydratreicher Nahrung, verbunden mit einem bewegungsarmen Lebensstil führt dazu, dass das Immunsystem dabei mit angeworfen wird und eine kontinuierlich schwelende Entzündung verursacht. Man nennt das Metaflammation. Viele dieser Erkrankungen, beispielsweise Arteriosklerose mit ihren Ablagerungen in Blutgefäßen, sind letzten Endes Entzündungserkrankungen. In dem Fall sind es chronische Entzündungen in den Gefäßen.
Solche Erkrankungen nehmen ständig zu und betreffen heute nicht mehr nur die industrialisierten Länder, sondern zunehmend auch den Globalen Süden. Insgesamt machen sie einen hohen Anteil der weltweiten Erkrankungslast aus. Ein Aspekt, der uns dabei stark umtreibt, ist die Tatsache, dass die Zunahme dieser Erkrankungen in den letzten einhundert Jahren nicht genetisch erklärt werden kann. Relativ klar ist, dass es sich um Veränderungen in unserer Umwelt handelt, zum Beispiel in unserem Ernährungsstil und in unserem Verhalten, die letzten Endes dazu führen, dass solche nachteiligen Reaktionen im Immunsystem ausgelöst werden. Reaktionen, die sich durch Entzündungen in Organen, an einer Stelle und zu einem Zeitpunkt zeigen, an dem sie nicht gebraucht und nicht gewollt sind. Genau darauf muss sich die Medizin der Zukunft fokussieren: auf das Auftreten deutlich mehr solcher immunvermittelter chronisch fortschreitender Erkrankungen.
Der Ausweg: Dort beginnen, wo der Mensch eigentlich noch gesund ist?

Genau. Ein Aspekt betrifft dabei die grundsätzliche Frage: Wollen wir Medizin so weiter betreiben wie bisher? Mit dem Ansatz: Wir als Mediziner kümmern uns hauptsächlich um kranke Menschen. Dabei ist der kranke Mensch einer, der zu uns kommt, weil er Symptome hat. Bei vielen Erkrankungen ist das die Endstrecke der Krankheitsentwicklung und meist schon ein Ausdruck des Versagens gewisser organischer Systeme. Und es ist nicht immer gegeben, dass Veränderungen, die zu solchen Symptomen führen, auch wieder völlig ausheilen können. In unseren therapeutischen Konzepten sind wir beim alleinigen Blick auf symptomatische Krankheiten letzten Endes immer spät dran. Wirkliche Heilung zu einhundert Prozent ist oft nicht mehr möglich, wenn Organe oder Gewebe zu stark geschädigt sind.
Die Herausforderung für die Zukunft wird sein, die Erkrankung dann zu greifen, wenn sie entsteht. Dazu müssen wir Marker identifizieren, die es uns erlauben, solche frühen Krankheitsbilder zu detektieren. Technologische Entwicklungen machen das inzwischen möglich. Die meisten der genannten chronischen Erkrankungen stellen eine fehlerhafte Anpassung an eine sich rapide verändernde Umwelt dar. Wir nennen das Maladaptation.
Unsere Daten zeigen, dass den Symptomen einer Erkrankung eine Phase vorausgeht, in der gesundheitserhaltende Anpassungsprozesse sich schrittweise erschöpfen. Diese Prozesse verstehen wir im Moment nur sehr lückenhaft. Weltweit ereignet sich daher im Hinblick auf das Bild der Medizin ein Paradigmenwechsel. Eine neue Perspektive sieht Gesundheit als aktiven Prozess, dem konkrete molekulare und zelluläre Mechanismen zugrunde liegen. Dementsprechend gilt es, Strategien zur Gesunderhaltung und zum frühzeitigen Erkennen von Erkrankungen zu entwickeln – noch bevor großer Schaden entstanden ist.
Wenn wir diese Signalwege der Homöostase, aktive Prozesse im Körper, die dem Aufrechterhalten von zentralen Funktionen dienen, besser kennen, dann hätten wir vielleicht die Möglichkeit, bei Menschengruppen mit einem gewissen Risikoprofil durch deren Verstärkung dazu beizutragen, dass eine Krankheit nicht entsteht oder vielleicht erst später ausbricht. Das geht dann Hand in Hand mit individualisierter Medizin.
Und es öffnet das weite Feld der Prävention. Allerdings nicht so, wie wir den Begriff bisher verstehen, als eine Sammlung von Vermeidungsstrategien: Wir hören auf zu rauchen. Wir ernähren uns gesund – was das dann auch immer heißen mag. Vielleicht mit weniger Fett, mehr Bewegung und weniger Kohlenhydraten. Man muss das weiter fassen. Wir werden zunehmend lernen und verstehen, und es wird in der medizinischen Grundlagenforschung in den Vordergrund gelangen, dass der Zustand Gesundheit ein aktiver Prozess ist. Ein Prozess, der von zu definierenden molekularen Netzwerken kontrolliert wird, die zur Prävention von Erkrankungen gestärkt werden können.
Sie erforschen an Ihrem Institut also nicht mehr Krankheiten, sondern inzwischen schon die Gesundheit?
Es ist der Blick auf die andere Seite der Münze, der trotzdem einen Bezug zur Entwicklung von Krankheiten hat. Wir gehen davon aus, dass der Weg zu einer Erkrankung so ist, dass in einem ersten Schritt zunächst Netzwerke der Gesundheitserhaltung, der Homöostase geschwächt oder erschöpft werden. Das ist dann möglicherweise die Geburtsmarke der Erkrankung. Wir arbeiten unter anderem daran, solche Netzwerke zu identifizieren und zu verstehen, ob ihre molekulare Verstärkung zur Prävention von Erkrankungen nutzbar gemacht werden kann.
Berlin, und vor allem die Charité, ist ein Standort mit langer medizinischer Historie. Das spürt man hier stärker als an anderen Wissenschaftsstandorten. Was ich nicht erwartet hätte, ist ein Aha-Erlebnis, das ich an der Charité hatte und mit dem Standort verbinde. Die medizinhistorische Perspektive geht hier auf eine Zeit zurück, etwa ins späte 19., frühe 20. Jahrhundert, in der sehr viele Konzepte formiert worden sind, die bis heute Gültigkeit haben. Paradigmen, wie sie beispielsweise durch Rudolf Virchow geprägt wurden. Sein Konzept von Krankheit besagt, und das ist auch völlig richtig: Krankheit ist eine Fehlfunktion der Zelle. Eine pathologische Veränderung von Prozessen in einer Zelle, die zu Fehlsteuerungen führt und die es zu unterbrechen gilt. Das ist richtig, hat aber dazu geführt, dass wir uns ausschließlich auf diese krankheitsfördernden molekularen Netzwerke gestürzt haben, mit der Konsequenz, dass wir unser gesamtes therapeutisches Arsenal dazu benutzen, solche Netzwerke letzten Endes auszuschalten.
Nun gibt es aber auch die molekularen Netzwerke, die uns gesund erhalten und die wir therapeutisch oder präventiv stärken wollen. Auch diese Gedanken waren in der Vergangenheit schon einmal verbreitet. Es gab große Diskussionen auf Medizinkongressen zwischen der Virchowschen Schule und dem Immunologen Metschnikow, der eher von der Evolutionstheorie herkam. Er war der Ansicht, dass der Zustand Gesundheit nicht simpel die Abwesenheit von Krankheit ist, sondern aktiv durch einen dialektischen Kampf zwischen krankheits- und gesundheitsfördernden Mechanismen etabliert wird.
Metschnikow hat schon früh beschrieben, dass es eine Ebene des Immunsystems gibt, die dazu beiträgt, den Zustand der Harmonie – den ‚Harmoniezwang im System‘, wie er es nannte – aufrechtzuerhalten. Wahrscheinlich meinte er damit, einen ausgleichenden homöostatischen Prozess zu gewährleisten, der schließlich einen Organismus gesund erhält. Und er hat auch gewusst, dass das Immunsystem dabei durchaus eine Rolle spielt. Diese Ideen kommen jetzt zurück, weil wir mehr und mehr erkennen, dass Potenziale im Verständnis solcher Resilienzprozesse – also Prozesse, die zum gesunden Funktionieren eines Organismus beitragen – vorhanden und auch nutzbar sind.
Eine Ihrer Schlüsselarbeiten ist vor etwa vier Jahren, 2019, im Fachjournal Nature* veröffentlichen worden. Darin beschreiben Sie mit Ihrem Team, wie das angeborene Immunsystem aktiv am Schutz vor Krebs, im konkreten Fall vor Darmkrebs, beteiligt ist. Ein Vorgang, der beispielhaft für jene Gesunderhaltungsprozesse im Organismus stehen kann?

Absolut. Diese Arbeit war ein Eye-Opener, wie man so schön sagt. Sie hat uns die Augen dafür geöffnet, dass es wirklich komplette Kreisläufe der Homöostase gibt, an denen das Immunsystem zentral beteiligt ist. Das Projekt lief über viele, viele Jahre, mit am Ende zentralen Befunden für uns. Es war ein erster Beweis dafür, dass das Immunsystem in der Tat nicht nur auf Umweltkomponenten reagiert, sondern dass Signale des Immunsystems dann die Funktion anderer Komponenten des Organismus anpassen – in diesem Fall Stammzellen des Darms. Das Immunsystem nimmt dort Veränderungen vor, die die Anpassung an die Umwelt optimieren, nämlich an die Aufnahme erbgutverändernder Substanzen aus der Nahrung. Das war das erste Mal, dass wir in einer Arbeit einen solchen homöostatischen, oder auch ausgleichenden, Kreislauf gesamthaft beschreiben konnten.
Demnach gibt es also zentrale Stellgrößen in unserem Körper, die stabil bleiben müssen, auch wenn sie stetig Veränderungen durch Umwelteinflüsse ausgesetzt sind. Beispielhaft dafür ist die Unversehrtheit unseres Genoms. Ob es nun Strahlung ist, Nahrungsbestandteile, Bakterien oder Viren sind – all das kann genotoxische Effekte haben, die aber unser Körper durch eine Maschinerie kompensiert, die DNA-Schäden repariert. Gemeinhin gingen wir bisher davon aus, dass diese Mechanismen zell-autonom sind, also sich allein in den geschädigten Zellen abspielen. Unsere Daten zeigten dagegen, dass das Immunsystem des Darms Sensoren besitzt, die erkennen, ob es genotoxischen Stress durch Nahrungsbestandteile gibt oder eben nicht. Und sie reagieren darauf. Sie produzieren Stoffe, sogenannte Zytokine, die die DNA-Reparatur-Systeme in betroffenen kritischen Strukturen von Geweben – hier sind es Stammzellen im Epithel des Darms – entsprechend anpassen. Sie fahren diese hoch, aber auch wieder herunter, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Wir gehen davon aus, dass es eine Vielzahl solcher Kreisläufe gibt, die uns an Einflüsse aus der Umwelt anpassen und aktiv dazu beitragen, den Zustand Gesundheit zu erhalten. Unser Ziel ist es, genau diese Mechanismen – die molekulare Signatur von Gesundheit – besser zu erforschen, um sie zu boostern, sie verstärken zu können, wenn es nötig wird. Wir widmen uns vermehrt Signalpfaden und Signalnetzwerken, die den Zustand der Gesundheit ausmachen und erhalten. Es geht um die Suche nach dem, was Gesundheit aufrechterhält – um irgendwann molekular definierte und individuell angepasste Prävention von Krankheiten betreiben zu können.
Mechanismen, die Gesundheit aufrechterhalten, werden auch ‚Hallmarks of Health‘ genannt. Was genau ist darunter zu verstehen?

Unter Hallmarks of Health verstehen wir einen ganzen Komplex von Mechanismen, die uns gesund erhalten. Das beginnt bei trivialen Dingen: Beispielsweise haben wir mit unserer Haut eine physiologische Barriere und diese besitzt eine gewisse Stabilität nach außen. Wir haben aber auch kleine Flimmerhärchen im Epithel der Lunge oder in den Atemwegen, die dazu da sind, Fremdstoffe, auch Viren, ‚auszufegen‘ aus dem System.
Grundsätzlich geht es aber um viel mehr: eben um die aktiven Prozesse der Gesunderhaltung. Oft sind das molekulare Signalpfade oder ganze regulierte Systeme, die miteinander kommunizieren. Ein zentrales Hallmark of Health ist die Summe der Mechanismen, die die ständige Anpassung gegenüber Komponenten aus der Umwelt gewährleisten. Wir nennen das Adaptation.
Das Thema ist in den letzten Jahren präsenter geworden, weil wir damit begonnen haben, das, was man heute als Exposom bezeichnet – also die Gesamtheit der Dinge, die auf uns einwirken – im Detail zu verstehen. Darunter ist auch das Licht. Das hat man als physikalische Größe schon früher verstanden. Dagegen das Mikrobiom in seiner Diversität, die Gesamtheit aller Mikroben, die so in und auf uns ‚hausen‘, haben wir erst durch technische Fortschritte in seiner wahren Vielfalt kennengelernt. Als wir es sequenzieren konnten und gesehen haben, dass es nicht nur 20 oder 30 Spezies sind, die uns besiedeln, sondern eher einige tausend. Die Vielfalt und den Einfluss dieser Komponenten auf uns als Wirtsorganismus studieren wir erst seit wenigen Jahren.
Dabei wird immer klarer: Das Zusammenleben zwischen Wirt und verschiedensten mikrobiellen Spezies hat sich über eine große Zeitspanne, über Millionen Jahre und länger, entwickelt. Es war sicher eine treibende Kraft in der Evolution. Das sehen wir daran, dass wir gewisse Stoffwechselleistungen an unser Mikrobiom abgegeben haben. Zum Beispiel können wir bestimmte Zucker, wie komplexe Zucker in Ballaststoffen, nur noch begrenzt selbst spalten. Unsere Vorläufer vor einigen Millionen Jahren hatten noch ein paar mehr Enzyme dafür. Wir geben das heute weitgehend ab, das macht das Mikrobiom für uns. Ein anderes Beispiel ist das Vitamin K, das zentral für die Blutgerinnung ist. Es wird von Bakterien produziert. Wir haben keine Enzyme, um Vitamin K selbst herzustellen. Wir machen uns also abhängig von der stetigen Gegenwart des Mikrobioms.
Der genaue Bauplan der Anpassungsvorgänge an Komponenten der belebten und unbelebten Umwelt, und wie die Störung dieser Prozesse zu immunvermittelten Erkrankungen führt, ist erst in Umrissen sichtbar. Offensichtlich ist, dass diese Mechanismen aus Millionen Jahren Ko-Evolution hervorgegangen und somit sehr robuste Systeme sind. Gerade das macht sie in ihrer Erforschung zu einer großen, aber auch vielversprechenden Herausforderung.
Geben Sie uns einen kleinen Einblick in die Arbeiten. Was beschäftigt Sie und die Gruppen an Ihrem Institut aktuell?
Die tägliche Anpassung an den Grenzflächen des Körpers, an der Haut, an Schleimhäuten, im Verdauungssystem, das prägt Gesundheit erhaltende Netzwerke. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt werden fortwährend Signale erzeugt, die einen Einfluss auf alle Organsysteme haben, nicht nur an Grenzflächen wie Darm, Lunge oder Haut, sondern auch auf das Nervensystem, die Knochen. Ein Beispiel: Der Körper kann sich nicht gegen das Mikrobiom abschotten und er braucht es. Unsere Studien haben gezeigt, dass er ohne das Mikrobiom auch keine Immunreaktion zur Abwehr von Infektionen abrufen kann. Das ist nicht auf Grenzflächen mit der Umwelt beschränkt. So können Makrophagen, also Fresszellen, des Gehirns bei einer lokalen Virusinfektion nicht aktiviert werden, wenn das Mikrobiom nicht vorhanden ist.
Interessanterweise führt die Besiedlung des Organismus mit dem Mikrobiom nach der Geburt zu einer Produktion von Stoffen, die die Funktionalität des Immunsystems prägen. Wir haben sogenannte Typ-I-Interferone als Botenstoffe identifiziert, die alle Organismen in kleinen Mengen konstant produzieren. Typ-I-Interferone fungieren sozusagen als ‚Einschaltsignal‘ für das angeborene Immunsystem, ohne das keine effektiven Immunantworten möglich sind. Es ist schon spannend, dass die gleiche Gruppe von Botenstoffen in niedrigen Konzentrationen das Immunsystem prägen kann und in großen Mengen bei Infektionen Schutz vermittelt.
Da solche Signale regulierbar sind, gehen wir jetzt der Frage nach, ob höhere Ruhekonzentrationen von Typ-I-Interferonen das Risiko zur Entwicklung von entzündlichen Erkrankungen erhöhen. Außerdem ist nicht klar, welche Komponenten des Mikrobioms die Prägung des Immunsystems veranlassen. Wir gehen davon aus, dass es Mikrobiota gibt, die Typ-I-Interferone fördern und andere, die diesen Prozess hemmen. Solche Einsichten ließen sich unmittelbar anwenden, um Immunaktivität zu unterdrücken, beispielsweise bei Entzündungserkrankungen, oder diese zu vergrößern, beispielsweise im Kontext von Immuntherapien gegen Tumoren.
In anderen Projekten befassen wir uns damit, wie das Immunsystem zur Selbstregulation von Organen beiträgt und wie sich diese Mechanismen im Verlauf von Erkrankungen verändern. Auch hier ist das Ziel: präventive Therapien zu entwickeln, die die Widerstandskraft stärken und Krankheiten verhindern.
Wo sehen Sie schon heute Anknüpfungspunkte, wenn es darum geht, molekulare Prävention zu betreiben oder präventive Therapien zu entwickeln?
Wenn man Infektionen in menschlichen Populationen betrachtet, da gibt es Individuen, die haben dieselbe Beladung mit einem Parasiten oder mit einem Virus – alle ungefähr gleich stark. Das Immunsystem funktioniert also bei all denen ungefähr gleich gut. Aber die einen werden todkrank, die anderen dagegen werden gar nicht krank. Solche Beobachtungen lassen sich auch bei genetisch identischen Individuen machen, beispielsweise Zwillingen oder genetisch wenig variablen Tiermodellen. Wir nennen dieses Phänomen Krankheitstoleranz. Das heißt, dass es wahrscheinlich eine Art individuelle ‚Vorspannung‘ des Gewebes gibt oder eine individuell ausgeprägte Resilienz – eine Widerstandskraft des Gewebes gegenüber solchen krankmachenden Einflüssen. Diese Phänomene hat man bei Infektionserregern zuerst beobachtet, aber wir sehen das auch bei anderen ‚Stressoren‘, beispielsweise solchen, die DNA-Schäden verursachen. Nur sind dann andere regulierende und regulierte Prozesse im Spiel.
Die genaue molekulare Grundlage dafür verstehen wir im Moment noch nicht, abgesehen von einigen wenigen Beispielen. Grundsätzlich handelt es sich aber um einen Befund, der in vielen Bereichen gemacht worden ist, an Wirbeltieren, aber auch in Fruchtfliegen oder Würmern – überall findet man dieses Phänomen. Egal ob Fliege, Mensch oder Maus: Es gibt jene, die relativ gut damit zurechtkommen, wenn sie von Viren oder Bakterien befallen werden und andere, die nicht gut damit zurechtkommen – bei derselben Beladung mit den jeweiligen Erregern. Vieles deutet darauf hin, dass diese sogenannte Geweberesilienz etwas mit Stoffwechselvorgängen im Gewebe zu tun hat. Diese führen, wenn man so will, zu einer größeren Robustheit gegenüber Erregern.
Heute ist es möglich, einen ganzen Gewebeverband auf Einzelzellebene zu verstehen. Wir können experimentell Manipulationen, beispielsweise eine Immunblockade, vornehmen und dann sehen, was passiert eigentlich mit allen anderen Komponenten des Gewebes. Das sind die Experimente, mit denen wir solche Resilienzprozesse verstehen werden. Indem wir Faktoren der Resilienz wegnehmen, sehen wir Veränderungen im Gewebe. Diese muss man kartieren und messen, Profile für genetische Aktivität und Stoffwechselleistungen erstellen. Das kann ich heute auch noch zeitlich und räumlich aufgelöst darstellen und weiß dann: Da sitzt diese Zelle und jene sitzt genau daneben. Diese Möglichkeiten führen zu einer sehr genauen Abbildung solcher Gesundheitsvorgänge. Es ist eine gute Zeit, diese Dinge jetzt anzugehen.
Der erste Schritt ist aber: So, wie wir einhundert oder einhundertfünfzig Jahre lang krankheitsfördernde molekulare Strukturen und Signaturen gesammelt haben, genauso müssen wir jetzt die gesundheitsbewahrenden sammeln. Welche Signale und welche Signalstärken lösen den programmierten Zelltod aus? Oder: Wie funktionieren DNA-Reparatur-Mechanismen, also wie beseitigen Zellen eventuelle Schäden am Erbgut? Erst dann wird klarer werden, was sich für eine Medizin oder Prävention nutzbar machen lässt, oder was vielleicht einfach nur schön ist, zu wissen.
Noch ist eine molekulare Prävention weitestgehend Science-Fiction. Es gibt allerdings schon Therapien, die darauf aufbauen: So gibt es mehrere klinische Studien, die einen positiven Effekt durch die Gabe des Botenstoffs Interleukin-22 bei einer sogenannten Spender-gegen-Empfänger-Reaktion, etwa nach einer Stammzellspende, beobachtet haben, ebenso bei der nichtalkoholischen Fettlebererkrankung. In beiden Fällen steigert IL-22 die Resilienz des Organs, des Darms oder der Leber, durch die Förderung von Hallmarks of Health.
Eine bestimmte Art Lymphozyten, Zellen des angeborenen Immunsystems, die Fremdstoffe erkennen und unschädlich machen – sogenannte Innate lymphoid cells (ILCs) – sind neben dem Mikrobiom zu einem Ihrer zentralen Forschungsthemen geworden. Wie kam dieses Thema zu Ihnen?
Zu uns gekommen ist es als Thema eigentlich gar nicht. Es ist aus einer ganz anderen Fragestellung entstanden. Man kannte ILCs damals überhaupt noch nicht, und so konnten wir sie gar nicht als Ziel haben. Im Immunsystem haben wir solche Lymphozyten, die als Teil des erworbenen Immunsystem eine wichtige Rolle spielen. Es gibt aber auch Lymphozyten, die wahrscheinlich evolutionär älter sind und zum sogenannten angeborenen Immunsystem gehören.
Im angeborenen Immunsystem gab es bis 2007, 2008 nur einen Zelltyp in der Familie der Lymphozyten, die sogenannten Natürlichen Killerzellen, auch NK-Zellen. Damit habe ich meine wissenschaftliche Laufbahn begonnen. Wir wollten verstehen, wie die NK-Zellen funktionieren, wie sie geschädigte oder infizierte Zellen erkennen. Sie spielen im Immunsystem eine wichtige Rolle und scheinen heute auch für die Tumortherapie stärker in Betracht gezogen zu werden. Es ist ein Zelltyp, von dem lange bekannt war, dass er andere Zellen zerstören kann, vor allem, wenn körpereigene Zellen viral infiziert werden oder in einen Tumor ‚transformieren‘.
Damals hatten wir eine Hypothese, nach der NK-Zellen eine ganz interessante Reifung nach der Geburt durchlaufen. Das war für mich als wichtiges Thema in der ‚scary phase’, der unsichersten Zeit in einem Wissenschaftlerleben, entstanden, in der man sein eigenes Labor aufbaut und die Dinge selbst machen muss, ohne Mentoren an der Seite und ohne abgesicherte Zukunft in der Forschung. Schon einige Zeit davor hatte ich in Erlangen und Berkeley an Natürlichen Killerzellen gearbeitet und zunehmend dann in New York in meinem eigenen Labor anhand ihrer Rolle im Verdauungstrakt. Man wusste, dass NK-Zellen, oder das, was man dafür hielt, sowohl in der neugeborenen Maus als auch beim neugeborenen Menschen relativ inaktiv sind. Doch obwohl sie ‚Natürliche Killerzellen‘ heißen, konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht viel machen.
Wenn man dagegen im erwachsenen Organismus schaut, haben sie eine gewisse Funktionalität erlangt. Wir hatten die Hypothese, dass das vielleicht irgendetwas mit dem Kontakt zu Signalen aus der Umwelt zu tun hat und hatten begonnen, das im Darm zu hinterfragen. Also zu sehen, ob wir NK-Zellen im Darm finden. Wie sehen die aus? Was machen die denn da? Kann es sein, dass die beim Kind ankommende Mikrobiota, die sich so langsam aufbaut, verdichtet und vermehrt, eine Rolle beim Reifungsprozess dieser Zellen spielt?
Zunächst haben wir im Darm NK-Zellen gefunden, das ist auch heute noch richtig. Wir haben dann aber noch etwas gründlicher geschaut und haben mit Markern gearbeitet, um NK-Zellrezeptoren, spezifische Andockstellen, zu beschreiben. Dabei fiel uns auf, dass einige dieser Zellen, also Untergruppen, gar nicht mehr so aussahen wie NK-Zellen. Wir hatten damals die Voraussetzungen ohne Bias, also ganz unvoreingenommen, zu sequenzieren und haben bemerkt: Diese Zellen haben gar nicht dasselbe funktionelle Programm wie NK-Zellen. Zum Beispiel konnten sie andere Zellen gar nicht mehr zerstören. Das fanden wir so interessant, sodass wir es im Detail verstehen wollten. Etwas Glück war vielleicht auch dabei, dass wir die richtigen Schlüsse gezogen haben. Jedenfalls nach einiger Zeit haben wir feststellen können, dass diese Zellen wirklich anders sind und dass sie anderen Regeln gehorchen. Letzten Endes waren wir doch sehr sicher, dass wir da eine ganz neue Zelllinie entdeckt haben.
Demnach ein Zufallsfund.

Wie das manchmal so ist in der Wissenschaft. Da gibt es Themen, plötzliche neue Einsichten, die überraschen mich immer wieder. Sie sind virulent, und das nicht nur in einem Labor. Dann gibt es plötzlich zwei oder drei Leute, die ähnliche Dinge sehen. Mitunter spricht man miteinander. Ab 2008, 2009, 2010 gab es eine ganze Serie von Arbeiten verschiedenster Gruppen, die weitere Mitglieder aus dieser Familie der angeborenen Lymphozyten vorstellten. Diejenigen, die von den NK-Zellen abgrenzbar sind, nennen wir heute ILCs, Innate Lymphoid Cells.
Für uns sind sie so interessant geworden, weil sie anders sind als die Lymphozyten, die wir bisher kannten. Es sind sogenannte geweberesidente Zellen. Zellen, die sich im Gewebe recht früh ein „Haus bauen“. Vielleicht hat man sie deshalb vorher nicht so richtig wahrgenommen. Die meisten anderen Immunzellen, vor allem B-Zellen und T-Zellen, sind eher zirkulierende Zellen oder „sitzen“ in Lymphgeweben wie Lymphknoten oder Milz. Sie werden erst dann richtig angeworfen, wenn eine Infektion vorhanden ist oder ein Tumor. Dann verlassen sie Lymphgewebe und Blut und gehen in das Gewebe, das befallen ist.
ILCs sind vorrangig in Organen angesiedelt, vor allem in Oberflächenorganen wie Haut, Lunge oder Darm. Und sie sind interessanterweise besonders zahlreich in Organen, die für Stoffwechselleistungen verantwortlich sind, wie Leber und Bauchspeicheldrüse, aber auch im Fettgewebe. Sie produzieren bestimmte Botenstoffe, sogenannte Zytokine, mit denen sie kommunizieren. Das tun prinzipiell alle Immunzellen. Aber gerade ILCs produzieren kontinuierlich Zytokine, die mit Gewebezellen kommunizieren. Andere geweberesidente Zellen wie Makrophagen, sogenannte Fresszellen, tun das auch.
Das ist einer der ganz frühen Befunde, den wir gemacht haben: Die ILCs produzieren einen löslichen Faktor, einen Botenstoff, der fälschlicherweise Interleukin-22 oder IL-22 genannt wird. Der Botenstoff heißt so, weil man annahm, dass er zur Kommunikation ‚inter‘ – also zwischen – Leukozyten diene. Das ist aber nicht so, weil Leukozyten gar keinen Rezeptor, keine Andockstelle, für dieses IL-22 haben. Dieser Rezeptor ist spezifisch für Gewebezellen. Und da es sich um einen evolutionär lang erhaltenen Botenstoff handelt, den wir bis weit hinein ins Fischreich zurückverfolgen können, gehen wir davon aus, dass es sich um einen sehr, sehr alten Mechanismus handelt, der dazu dient, dass Immunzellen Gewebefunktion verändern.
Es gibt also Immunzellen, die immer aktiv sind und deren Funktion bei einer Veränderung in der Umwelt herauf- oder herunterreguliert wird. Es sind Zellen, die Stoffe produzieren, die nicht unbedingt andere Immunzellen anweisen in die Immunabwehr einzusteigen, sondern die die Gewebefunktion steuern. Eine Erkenntnis, die eine riesige Bandbereite an völlig neuen Themen für die Immunologie eröffnet hat. Heute wissen wir, dass wir für viele Gewebereparaturmechanismen genau diese Zellen und ihre Produkte brauchen.
Um es an einem Beispiel zu zeigen: Ein Chirurg kann eine halbe Leber entfernen und das Organ wächst wieder nach. Das ist in etwa so, wie man es schon in der Antike wusste, denkt man an Prometheus, an dessen Leber täglich ein Adler frisst, wobei sie sich stets erneuert. Das ist schon ein spektakuläres Organ. Nimmt man selbst einen großen Teil weg, dann ist sie nach etwa einer Woche wieder gewachsen. Neues Gewebe entsteht aus dem gesunden Teil, und das extrem schnell – die Zellen wachsen, wachsen, wachsen. Das Organ wird wieder größer und passt sich dem Bedarf an, sodass es seine Funktion weiter erfüllen kann. Wir wissen heute, dass die ILCs dabei eine ganz wichtige Rolle spielen. Das lässt sich auch experimentell nachweisen, indem man beispielsweise die ILCs wegnimmt oder verändert. Dann ist diese Leberregeneration wesentlich verlangsamt.
Daher denken wir, dass diese Immunzellen in Geweben eher als Teil des Gewebes verstanden werden müssen, denn als Teil des Immunsystems. Sie scheinen auch in den verschiedenen Geweben spezifische Funktionen auszuführen, die sie nur in dem jeweiligen Gewebe haben und in einem anderen nicht. Nicht jedes Organ kann sich so gut regenerieren wie die Leber. Im Darm dagegen scheinen die ILCs wesentlich stärker an Stoffwechselvorgängen beteiligt zu sein, beispielsweise an der Aufnahme von Nahrungsbestandteilen. Hier steuern Signale von ILCs mit, wie gut wir das können.
Ja, die Entdeckung der ILCs war ein klassischer Fall von Serendipity – ein glücklicher Zufall, wie man so sagt – der es uns ermöglicht hat, in neue Gefilde vorzudringen. Damit es dazu kommen kann, darf man nicht ausschließlich zielgetrieben arbeiten. Ich glaube nicht an eine Wissenschaft, die nur ein bestimmtes Ziel, einen definierten Auftrag verfolgt. Ein gutes Beispiel ist hier der Bakteriologe Alexander Fleming, dessen Beobachtungen an Schimmelpilzen, die zufällig in Bakterienkulturen hineingeraten waren, zur Entwicklung des Antibiotikums Penicillin führten.
Große Entdeckungen entstehen oft zufällig und sind vorrangig das Ergebnis erkenntnisgetriebener Forschung. Ein sehr wichtiger Aspekt hierfür ist allerdings wissenschaftliche Unabhängigkeit und der Wille, zu verstehen. Man muss immer weiter fragen. Offenheit und Ausdauer, das ist absolut notwendig. So sind wir auch an die Erforschung der ILCs herangegangen. Und man muss die Komfortzone auch mal verlassen. Mit solchen Herausforderungen muss man kreativ umgehen. Und auch mal zu scheitern, ist nicht schlimm.
Letzten Endes war es eine Entdeckung durch die Beschäftigung mit etwas Bekanntem. Durch genaues Hinschauen und ein paar gute Schlüsse im richtigen Moment haben wir eine ganz neue Zellpopulation in Geweben gefunden. Langfristig bleibt das Interesse daran: Was machen die ILCs in den Geweben genau? Und welche Gewebeprozesse beeinflussen sie? Das führt auch zu Fragen der Geweberesilienz: Ist sie vielleicht von solchen Zellen und deren Produkten abhängig? Teilweise sehen wir schon jetzt: Ja, das ist sie. Aber es sind auch andere Zellen beteiligt, die dabei mitspielen. Jetzt geht es darum, zu verstehen, welche Komponenten von Gewebegesundheit von solchen angeborenen Immunzellen reguliert werden. Und natürlich stellt sich die Frage, wie man das am Ende nutzbar machen kann.
Welche Chancen sehen Sie am Wissenschaftsstandort Berlin, an der Charité und am Institut für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie, um einer „Medizin der Zukunft“, bei der der gesunde Mensch im Mittelpunkt steht, näher zu kommen?

Wir sind natürlich eine medizinische Fakultät und fokussieren uns sehr stark auf medizinisch relevante Fragen. Es ist ein großes Plus, dass die Charité ein sehr großes und diverses Gebilde ist, was als Gesamtheit über Medizin nachdenkt. Und für das, was wir machen wollen, ist ein großer Vorteil an diesem Standort, dass wir interdisziplinär und transdisziplinär arbeiten können.
Manche Fragestellungen kann man nur so angehen. Der große Komplex der Anpassung an den Grenzflächen des Körpers ist dafür ein gutes Beispiel. Da hat man zum einen das Exposom, die ganzen Einflüsse, die von außen kommen, die man manipulieren und verstehen muss. Da braucht man jemanden, der das Mikrobiom versteht, also eher einen Mikrobiologen. Das Mikrobiom sitzt aber nun mal auf Epithelzellen oder Barrieren, da braucht man eine Gruppe von Leuten, die eben solche Organe studieren, Dermatolog:innen oder Gastroenterolog:innen. Dann wissen wir aber, dass es auch um Signale des Immunsystems geht, da braucht es Immunolog:innen und vielleicht auch Biolog:innen.
Strukturell ist es immer gut, wenn man in einem Verbund oder auch in bestimmten Gebäuden Menschen zusammenbringt, die an Dingen gemeinsam arbeiten wollen. Durch meine Zeit in New York, am Skirball Institute for Biomolecular Medicine, bin ich stark geprägt. Interdisziplinarität ist dort viel stärker strukturell angelegt als in Deutschland, es gibt einfach mehr Kommunikation und die Disziplinen reden miteinander. Einmal in der Woche kamen alle Gruppenleiter:innen zusammen, um über ein Projekt zu sprechen. Das heißt, man musste sein Projekt auch den Entwicklungsbiologen oder den Strukturbiologen erklären. Das fördert eine gewisse Sprache, sodass eben nicht nur die Immunologen verstehen, was wir machen, sondern es auch die Entwicklungsbiologen spannend finden. Das prägt einen wissenschaftlichen Diskurs, der darauf aufbaut, dass gewisse Disziplinen an Schnittstellen miteinander verbunden sind.
Ein Forschungshaus, wie wir es jetzt für den Charité Campus Benjamin Franklin konzipieren und planen, bietet genau diese Chance. Es ist auf die Zusammenführung von Disziplinen eines neuen Feldes angelegt. Der von Bund und Land zur Förderung aufgenommene Forschungsbau „Der gesunde Mensch“ wird ein wissenschaftsgetriebener Bau sein. Es ist der hochmoderne Ausbau eines historischen Gebäudes, in dem eine wissenschaftliche Idee und eine Kultur gepflegt werden sollen, wie sie in traditionellen Forschungsstrukturen so nicht möglich wären. Möglicherweise wird es national und international eine Leuchtturmfunktion haben. Wenn alles gut geht, werden wir in etwa vier bis fünf Jahren hier im Berliner Südwesten, in enger Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin mit ihrer starken naturwissenschaftlichen Fakultät, einen Bau haben, an dem künftig die Biologie der Gesundheit studiert werden kann: das Berlin Center for the Biology of Health.
Was noch deutlich wichtiger werden wird, ist, dass wir noch transdisziplinärer arbeiten. Auf der einen Seite haben wir Mediziner:innen, dann haben wir Naturwissenschaftler:innen und natürlich generieren wir mehr und mehr riesiger Datensätze. Dazu braucht es Datenwissenschaftler:innen, Biophysiker:innen, Mathematiker:innen, Informatiker:innen oder Nachwuchs aus dem systembiologischen Bereich. Auch für die Ausbildung liegt hier eine große Chance. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gut funktionierende disziplinäre Ausbildungs-Tracks entwickelt, aber die Tracks der verschiedenen Disziplinen sind weitestgehend separiert. Das Berlin Center for the Biology of Health plant eine Verzahnung dieser Tracks, so dass diese auch untereinander angebunden sind und miteinander kommunizieren. Eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, mit Bioinformatiker:innen, Systembiolog:innen also mit Leuten, die Modelle aus Daten machen, das wird immer wichtiger, denn Wissenschaft wird zunehmend komplexer.
Ich glaube, dass die Innovation im System immer auch aus der Forschung kommt und wir müssen noch unkonventionellere und agilere Wege entwickeln, damit Forschung an unserer Institution weiter eine wichtige Komponente ist. Und dann ist da natürlich Qualität: In meinen Augen ist Qualität in der Forschung entscheidend. Darauf müssen wir setzen.
Professor Dr. Andreas Diefenbach
Andreas Diefenbach wurde 1965 in Aachen geboren. Er studierte Humanmedizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 1999 bis 2003 war er Postdoctoral Fellow am Department of Molecular and Cell Biology an der University of California, Berkeley, USA, unterstützt durch Forschungsstipendien der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Howard Hughes Medical Institutes. Von 2003 bis 2006 hielt Diefenbach eine Irene Diamond Assistant Professorship of Immunology am Skirball Institute of Biomolecular Medicine, New York, USA und von 2007 bis 2013 war er Professor für Mikrobiologie und Molekulare Infektionsimmunologie an der Universität Freiburg sowie Adjunct Professor of Pathology am Department of Pathology des University Medical Center in New York. Ebenso war er stellvertretender Direktor der Abteilung Mikrobiologie des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene am Universitätsklinikum Freiburg. Es folgte eine Zeit als Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz. Seit 2016 ist Andreas Diefenbach Einstein Professor für Mikrobiologie (Einstein Stiftung Berlin) an der Charité und Direktor des Instituts für Mikrobiologie und Infektionsimmunologie der Charité mit inzwischen zwölf Arbeitsgruppen an der Charité und am Leibniz-Institut Deutsches Rheumaforschungszentrum (DRFZ). Er leitet das DFG-Schwerpunktprogramm 1937 „Innate Lymphoid Cells“ und ist Sprecher des Else-Kröner Promotionskollegs „Re-Thinking Health“. Seit 2017 gehört er zu den Highly Cited Researchers im Feld Immunologie, ist Empfänger des Hauptpreises der DGHM und ein gewähltes Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
*Gronke K et al. Interleukin-22 protects intestinal stem cells against genotoxic stress. Nature 2019 Jan 31. doi: 10.1038/s41586-019-0899-7
Titelfoto: Prof. Andreas Diefenbach © Charité | Artur Krutsch
Interview: Anne Mertens, Juli 2023