Metanavigation:

Hier finden Sie den Zugang zur Notfallseite, Kontaktinformationen, Barrierefreiheits-Einstellungen, die Sprachwahl und die Suchfunktion.

Navigation öffnen
© Med. Klinik m. S. Infektiologie und Pneumologie/Charité

Wegbereiter

Prof. Dr. Norbert Suttorp hatte seit 1999 den damals deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Infektiologie inne. Sieben Arbeitsgruppen standen unter seiner Ägide. Ziel der Arbeiten: die Erforschung von Infektionen, insbesondere denen der Lunge, und Reaktionen des angeborenen pulmonalen Immunsystems. Grundlegende Mechanismen der Lungenentzündung konnten über die Jahre aufgeklärt werden und ein translationaler Forschungsschwerpunkt Infektiologie und Immunologie entstehen. Zum Frühjahr 2022 hat der Infektionsmediziner und Lungenarzt die Leitung weitergegeben.

Sie befinden sich hier:

Herr Suttorp, heute ist Donnerstag, die COVID-19-Pandemie geht in die 100. Woche. Was tun Sie an einem solchen Tag für gewöhnlich?

Heute Morgen hatte ich zwei Frühbesprechungen, am Virchow-Klinikum und in Mitte. Dann hatte ich eine Besprechung anberaumt, da geht es um Therapiestandards bei COVID-19. Es gibt bei Medikamenten ständig Weiterentwicklungen. Daher müssen wir immer wieder anpassen und für alle COVID-Versorger an der Charité vereinheitlichen. Dann sind wir gerade dabei, letzte Details unserer internationalen Konferenz im Herbst zu regeln. Und es ist noch eine Patientin zu mir gekommen, weil sie Atemnot hatte. Eben das Leben an einem Uniklinikum. Und jetzt ein Interview…

Vor inzwischen 23 Jahren haben Sie Ihre Arbeiten an der Charité begonnen. Wie nahm alles seinen Anfang, als Sie nach Berlin kamen? Was waren Ihre Hauptinteressen?

Den Anfang kann man viel besser greifen, wenn man mit dem Ende anfängt. Natürlich bewegt man sich als Hochschullehrer an einer Uniklinik in den bekannten Bahnen von Forschung, Lehre und Krankenversorgung. Und man versucht, hier sehr gute Arbeit zu leisten. Am Ende weiß ich, dass mich darüber hinaus insbesondere Strukturen interessieren. Wie sie funktionieren, wie sich gute Abläufe herstellen lassen. Diese Strukturen beziehen sich sowohl auf die Medizin, oder erweitert auf die Biologie, aber auch auf Strukturen im Sozialen, insbesondere im Hinblick auf Organisationsstrukturen.

In der Biologie interessieren mich die Abläufe im Gesamtorganismus, die Organfunktion, die Zellfunktion, die Genregulation und die Biochemie mit der Hierarchie aller Signalwege. Die atomare Ebene ist nicht mehr meine Ebene. In Sachen Organisationsstruktur wollte ich zunächst immer die Charité verstehen. Und ich habe mir viele andere Strukturen angeschaut, sei es die Leibniz-Gemeinschaft oder Helmholtz-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG), das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Bundesärztekammer, die Fachgesellschaft, der Wissenschaftsrat oder die Leopoldina. Das sind sehr, sehr unterschiedliche ‚Läden‘, aber immer geht es mir auch um die Frage: wie läuft es da, was machen die anders, was fehlt uns vielleicht an der Charité? Und am Ende fiel mir auch immer mehr auf: ich bin ja gar kein richtiger, typischer Hochschullehrer. Mit dieser gesellschaftlichen Klasse fremdle ich ja ungemein.

Was treibt Sie um, wenn Sie darüber nachdenken?

Für einen Klinikleiter ist natürlich zuerst die Patientenversorgung wichtig. Die muss einfach stimmen. Ein guter Wissenschaftler mit Top-Ergebnissen und dann auf allen Kongressen zu Hause? Schön, aber ein No-Go, wenn es in der Klinik drunter und drüber geht. Die klinische Versorgung muss gut organisiert sein, klar. Gleichzeitig ist mir aber wichtig, dass ich mich an jedem Bett in der eigenen Klinik zu jeder Zeit zu dem gerade bestehenden Problem des Patienten kompetent äußern kann. Ein hohes Organisationstalent ohne hohe klinische Kompetenz kommt bestimmt ganz schön weit – aber das ist mir zu wenig und nicht mein Ding. Ich hole häufig mein Stethoskop raus und sage bisweilen zum Patienten: ‚Jetzt sind Sie hier, jetzt schreiten wir zum Äußersten… – ich höre sie ab.‘ Und dabei erfährt man oft mehr, als über ein ‚CT von Nacke bis Hacke‘, wie bei Unimedizin gern erwartet.

Aus Ihrer Sicht: Was macht einen guten Infektiologen und Pneumologen aus?

Klinikflur: Prof. Dr. Norbert Suttorp mit Maske und Stethoskop in der Kitteltasche.
„Jetzt sind Sie hier, jetzt schreiten wir zum Äußersten… – ich höre sie ab.“ Prof. Dr. Norbert Suttorp. Foto: © Charité | Sabine Gudath

Infektiologie, das ist ein richtiges Querschnittsfach. Es kommt in allen Gebieten der Medizin vor. Eine gute internistische Ausbildung ist daher essenziell. Einer der Herausgeber des ‚Harrisons Innere Medizin‘, der Bibel der Inneren Medizin, zu sein, mit seinen 4.400 Seiten, ist da schon mal ein guter Start... Ich bestreite außerdem seit vielen Jahren die Vorlesung ‚Prinzipien der Differentialdiagnose in der Inneren Medizin‘ und weiß: Bei Studierenden ist man nur dann glaubwürdig, wenn sie merken, da kommt jemand mit Wissen gepaart mit viel Berufserfahrung daher. Wenn es um die Lunge geht: da hat mich immer interessiert, wie man 70 Quadratmeter Gasaustauschfläche in den Brustkorb quetscht und das immer noch funktioniert. Da entstehen enorme Oberflächenspannungen und die wollen gut, und auch noch abhängig vom Atemzyklus, reguliert sein.

Ein ganz anderes Beispiel für die Breite der Infektiologie: Jeder Arzt darf Antibiotika verschreiben, aber am Ende muss man genau hinschauen. Es geht um eine sinnvolle antibiotische Therapie, sinnvolle Kombinationen, richtige Zeitdauer, Resistenzen bedenken, Neuentwicklungen im Auge haben. Darum haben wir hier an der Charité das Antibiotic-Stewardship-Programm auf den Weg gebracht, bestehend aus Infektiologen, Mikrobiologen, Krankenhaus-Hygiene und Apotheker. Wir gehen unter anderem auf alle Intensivstationen und schauen uns die Patienten an, mit den Fragen: Ist die, wie wir sagen, antiinfektive Therapie richtig oder muss sie angepasst werden? Ist adäquat auf resistente Erreger reagiert worden? Ist die Interaktion mit anderen Medikamenten bedacht worden? Kann die Therapie beendet werden? Man schätzt, dass es bei 40 Prozent der Betten eines Hauses der Maximalversorgung täglich um Ansetzen, Umsetzen oder Absetzen von Antiinfektiva geht. Das zeigt, wie viele Entscheidungen an jedem Tag an dieser Front fallen.

Als Infektiologe hat man es aber natürlich auch mit kranken Reiserückkehrern zu tun. Man muss also die Weltkarte vor Augen haben. Auch in Berlin gibt es verrückte Infektionssachen. Eine echte Herausforderung sind Patientinnen oder Patienten mit Fieber unbekannter Ursache. Da ist der Internist in mir gefragt, denn häufig ergeben sich anstatt Infektionsursachen Autoimmunkrankheiten oder auch eine Tumorerkrankung. Infektiologie ist ein ausgesprochen dynamisches Fach. Es gibt 30 oder 40 Infektionskrankheiten, die kamen in meinem Studium gar nicht vor, weil es die Krankheiten noch nicht gab, oder weil sie noch nicht bekannt waren. Den ersten HIV-Patienten habe ich 1982 gesehen, das war damals wirklich neu und ‚wie vom Himmel gefallen‘. Offen sein für Neues und das Unerwartete erwarten – das passt gut zu meinem Fach.

Können Sie sagen, was Sie in Ihrer Laufbahn als Mediziner und Wissenschaftler am meisten geprägt hat?

Für mich als Wissenschaftler war natürlich die Stanford-Zeit prägend, mehr als zwei Jahre als Postdoc. Das ist weniger als drei Prozent meiner Lebensarbeitszeit, macht aber 20 Prozent in meinem Kopf aus. Ich war ein junger Hüpfer, damals, und mir haben immer die Laborbesprechungen gefallen. Da stellten alle ihre Projekte vor, auch ihre Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten. Ich fand die Internationalität damals enorm. Irgendwann hatte ich eine Phase im Projekt, da musste ich monoklonale Antikörper machen, das konnte ich dann in einer Nachbarabteilung erlernen. Das war damals noch eine ganz aufregende Technik. Meine Promotion war eher tierexperimentell gewesen, jetzt kam ich in ein neues Gebiet hinein, in die Zellbiologie und die Genregulation. Für mich eine neue Ausrichtung. Ich wollte immer mehr als die gerade aktuelle klinische Studie kennen. Ich wollte und will immer noch genau wissen, wie das funktioniert. Stanford ist lange her – von heute aus betrachtet, hat sich natürlich vieles verändert. Früher musste man den ‚IAG‘-Stempel haben, in Amerika gewesen sein, um etwas zu werden. Das hat sich geändert. Die USA haben an Renommee verloren und die deutsche Forschung ist einfach besser geworden. Auch Oxford ist in meinem Bereich eine Anlaufstelle, wo man sofort loslegen könnte.

Sie sprachen Ihr Interesse für Organisationsstrukturen und Strukturen des Wissenschaftssystems an. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie über die Jahre gelangt?

Organisationsstrukturen verstehen, das ist ja von enormer Bedeutung. Bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Fachkollegium geht es immer um den Versuchsaufbau, ums Molekül und das geht runter bis zum richtigen pH-Wert im Puffer. Bei Leibniz geht es um die großen Linien der Institute: wie kann man den Laden weiterentwickeln und zukunftsfest machen? Auch gibt es bei Leibniz die sogenannten ‚kopflosen‘ Gespräche – Gespräche mit Mitarbeitern ohne Leitung – ein wirklich interessantes Modell. Und beim Wissenschaftsrat ist nochmals eine ganz andere Flughöhe. Im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer überrascht immer wieder die enorme Breite der Themen. Und wer nächster Gesundheitsminister wird, ist hier auch nicht unwichtig. Bei der Fachgesellschaft für Infektiologie habe ich über 20 Jahre kräftig mitgezogen, sodass Infektiologie ein eigener Schwerpunkt in der Inneren Medizin wird. Da muss man wissen, wie die Abläufe sind, und da muss man wissen, wer hinter den Kulissen gegenhält. Egal: 2021 war es dann soweit. Aktuell verhandele ich mit der Peking-Universität ein Projekt – da muss man sich dann auch in die fremde Kultur einarbeiten, sonst wird das nichts. Man muss alle neun chinesischen Traumata kennen, die zum Teil über 100 Jahre alt sind. Alle Chinesen haben die sehr typischen Reaktionen darauf verinnerlicht. Das muss man wissen. Ich verstehe die Chinesen immer noch nicht, aber es wird langsam besser.

Wen man dann zur Charité zurück kommt, fallen einem Sachen auf. Zum Beispiel gibt es für Forschung und Lehre ein Gremium, den Fakultätsrat. Der arbeitet sehr zuverlässig und präzise wie eine Nähmaschine. So etwas gibt es auf Klinikums-Seite gar nicht. Also haben Kollegen und ich den Klinikrat der Charité (KdC) gegründet. Wir wurden lange als ‚dicht an illegal‘ beäugt. Die Zeit hat uns Recht gegeben – heute ist der KdC als neues Organ namens Klinikumskonferenz im UniMed-Gesetz verankert und berät die Klinikumsleitung. Ein großer struktureller Erfolg, wie ich meine. Eine weitere Erfolgsgeschichte ist der Code of Conduct (CoC). Das fing an mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2014. Da ging es um Wissenschaftsfreiheit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hatten wegen möglicher Einschränkungen geklagt und Recht bekommen. Diesen Hannoveraner Geist des Urteils wollten wir nach Berlin an die Charité holen. Ich sage mal ganz platt: das Klinikum mit seinem riesigen Budget kann durchaus und ohne Absicht was beschließen, was der finanziell kleineren Fakultät in die Quere kommt. Da hilft es, Rahmensetzung und Schnittstellen zu verstehen, in Haushaltsfragen fit zu sein, Norm-Hierarchie zu beachten. Es sei am Rande erwähnt, dass dieser CoC-Prozess nunmehr auch im Berliner Hochschulgesetz verankert ist.

Neben all dem sehen wir heute einen Schwerpunkt Infektiologie und Immunologie, auch der translationalen Lungenforschung, an der Charité, mit erheblicher Expertendichte und international beachteten Arbeiten. Blicken wir noch einmal zurück in das Jahr 1999, als Sie von Gießen, Ihrer damaligen beruflichen Heimat, nach Berlin kamen. Welche Bedingungen haben Sie vorgefunden?

Es gab nicht viel und man konnte viel daraus machen. Das Virchow-Klinikum war gerade universitär geworden, vorher war es ein städtisches Krankenhaus der Maximalversorgung gewesen. Was an Forschung lief, war maximal ein neues Medikament bei Malaria zu testen. Die universitäre Denke war noch gar nicht angekommen.

In meinem ersten Leben war ich eine Art ‚Endothelzell-Freak‘, wenn man so will. Dann haben wir die Pathogen-Wirtinteraktion auf die gesamte Lunge ausgerollt. Die angeborene Immunität ist ein großes Gebiet, dazu gehören verschiedene Resilienz-Mechanismen, auch das Aufräumen und die Reparatur nach der Abwehrschlacht. Ein mir immer wichtiger Aspekt ist die Dichtigkeit von Gefäßen. Das ist in der Lunge ein ganz großes Thema, denn werden die Gefäße undicht, laufen die Lungenbläschen voller Flüssigkeit und dann ist schnell ‚Ende Gelände‘. Da ist dann die Überlegung: Wie bekomme ich die Gefäße wieder dicht. Und da ist schnell die Frage: ist dieses ‚Gefäße-dicht-halten‘ eine aktive oder passive Leistung des Körpers? Wir haben gesagt: Ja. Das ist so wichtig, darum kümmert sich der Körper selbst und es gibt sicher ein Molekül, das das regelt. Und Bingo! So ist es! Das haben wir dann auch identifiziert, durch viele experimentelle Modelle gezogen, sodass es jetzt ein Medikament gibt, das gerade in einer Phase-2a-Studie bei Intensivpatienten geprüft wird. Okay, das Ganze hat schlappe 15 Jahre benötigt. Aber in dem Sinne gibt es hier eine komplette Geschichte, vom Molekül an der Bench bis zum Medikament am Bett.

Inhaltliche Aufbauarbeit also. Aber auch Aufbau von Strukturen...

Infektion und Lunge – die Überschrift war gesetzt. Aber als Chef muss man vor allem sehen, dass das Geld beikommt. Ich habe über mehr als 20 Jahre jeden Sommer hier gesessen und einen großen Antrag geschrieben oder ein Großprojekt koordiniert, Verlängerungen beantragt, Berichte abgefasst. Es gab beispielsweise ab 2001 ein BMBF-Kompetenznetzwerk CAPNETZ, zur systematischen Charakterisierung der ambulant erworbenen Lungenentzündung. Immerhin kommt die Lungenentzündung hierzulande 750.000 Mal im Jahr vor, und führt ungefähr 290.000 Mal ins Krankenhaus. 13 Prozent der Patienten versterben. 13 Prozent von 290.000, das sind schon verdammt große Zahlen: 30.000 Tote pro Jahr wegen CAP (engl. community-acquired pneumonia), das ist etwa zehn Mal mehr als im Straßenverkehr. Dazu kommt jetzt noch COVID-19 on top. CAPNETZ ist drei Mal vier Jahre gelaufen, die ersten zehn Jahre war ich Sprecher. Später haben wir das Kompetenznetz in eine selbstständige Stiftung überführt, die – nicht ganz unwesentlich – selbst antragsberechtigt und zuwendungsbefähigt ist. Da habe ich das erste Mal Strukturbildung gemacht und dabei viel gelernt.

Eine alte Heldentat aus dieser CAPNETZ-Zeit ist der CRB-65-Score, ein Richtwert, um den Schweregrad einer ambulant erworbenen Pneumonie in zwei Minuten und ohne Laborwerte abzuschätzen. Jetzt kann man – durch viele CAPNETZ-Daten belegt – beispielsweise sicher sagen: dieser CAP-Patient in der Rettungsstelle muss nicht aufgenommen, sondern kann sicher nach Hause geschickt werden. Dieser Score steht inzwischen in allen S3-Leitlinien und deutschlandweit wird damit in allen Kliniken gearbeitet. Ein anderes wichtiges CAPNETZ-Ergebnis war, dass wir die Mikrobiologie, die überwiegenden Krankheitsauslöser, neu beleuchtet haben. Es hat sich bestätigt: Pneumokokken sind die häufigsten Erreger, na klar. Aber Chlamydia pneumoniae, von dem man annahm, er spiele in 15 Prozent der Fälle eine kausale Rolle: Flöttepiepen, es ist nicht einmal ein Prozent. In diesem Sinne haben wir auch mit ein paar alten Sachen aufgeräumt. Also am Ende Charakterisierung einer Krankheit, einer richtigen Volkskrankheit.

Weitere Großvorhaben mit dem Ziel der systematischen Erforschung der Lungenentzündung folgen wenig später…

Ja, bei PROGRESS, ab 2007, haben wir die Patienten eingehender charakterisiert. Haben auch sequenziell Blut abgenommen, über vier Tage, und natürlich klinisch phänotypisiert. Wir haben dann -omiks gemacht, mit den Blutproben: Genotyping, Transkriptom, Proteom. In der Transkriptomanalyse konnten wir eine neue diagnostische Signatur, also Biomarker, identifizieren und validieren. Die Signatur steht jetzt im Patentverfahren. Wir haben auch bestimmte Biomarker im Blut gefunden, die Aussagen über die Spätsterblichkeit machen. Wenn 100 Patienten an einer Pneumonie versterben, dann versterben die ersten 50 bis Tag 30 und die nächsten 50 bis Tag 365 – aber warum sterben sie, obwohl sie bereits entlassen sind? Unsere These ist: Die Ursache liegt in der Schwere der Entzündung, einem Brandbeschleuniger für Arteriosklerose, mit der Folge von Herzinfarkt, Schlaganfall, et cetera. Die gefundenen Biomarker sind daher nicht aus dem Bereich ‚Entzündung‘ sondern interessanter Weise aus dem Bereich ‚Gefäßfunktion‘. Patienten über neue Biomarker gut durch das Behandlungssystem zu steuern, das ist ein sehr wertvolles Ziel. Heute würde man das translationales Arbeiten nennen. Im BMBF-geförderten CAPSyS-Verbund gehen wir den hier genannten Fragen auch mit systemmedizinischen Methoden nach – man kann nur schlauer werden, wenn man als Mediziner mit dem Mathematiker zusammenarbeitet.

Das sind überwiegend patientenorientierte Studien, weil ich als Klinikleiter das Gefühl habe, man kann ja nicht nur Moleküle im Labor jagen. Von Hause aus bin ich aber eher zellbiologisch orientiert und die experimentelle Arbeit an der Bench hat nie geruht. Diese Denke von der Bench ist in den Sonderforschungsbereich/ Transregio 84 eingeflossen. Man macht eine Beobachtung im Labor und das landet beim Patienten. Oder man macht eine Beobachtung beim Patienten, das landet auch wieder im Labor. In dem Sinne eben das Ping Pong zwischen Bench und Bett.

In jedem Fall musste die Aufbauleistung auch umgesetzt werden. Wie gehen Sie vor, was sind hierbei Ihre Prinzipien?

Ich habe einige Mitarbeiter mitgebracht, die waren klinisch gut und in der Mitte ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Einige wurden irgendwann Arbeitsgruppenleiter. Die gehen dann in Richtung Unabhängigkeit und Autopilot, haben ihre eigenen Doktoranden, die ich gar nicht mehr unbedingt kenne. Es wurden immer mehr Arbeitsgruppen. Dann gehen auch mal Mitarbeiter und dann kommen neue. Wichtig ist eigentlich, in einer Bewerbungssituation die Ausnahmetalente zu erkennen. Viele wollen klinisch arbeiten und gute Ärzte werden. Das ist natürlich völlig legitim. Und viele wollen ‚Science‘ machen, weil sie Infektiologie und Immunologie interessant finden. Auch völlig legitim. Diese Mitarbeiter sind wie Juwelen. Aber die Talente, die auf beiden Seiten spielen können, das sind höchstens zwei bis drei Prozent aller Bewerber – diese Talente muss man wirklich raussuchen - das sind die Kronjuwelen.

Wie erkennen Sie die Ausnahmetalente?

Tja… die kriegen es halt einfach hin. Sie sind sehr gut strukturiert, sehr klar im Kopf, haben eine gute Arbeitseinteilung, ein gutes Zeitmanagement. Auch schnell Schwerpunkte zu setzen und Nischen zu erobern, ist wichtig. Heute ist das ein wenig leichter geworden, weil es Instrumente für ‚protected time‘ gibt. Das Clinician Scientist Programm, mit all seinen Varianten Junior-, Voll- und Advanced-Programm ist für uns Kliniker sowas von Gold wert.

Ende 2019, Anfang 2020 kam zu den bestehenden Aufgaben ungeplant die COVID-19-Forschung hinzu und sie musste sehr schnell anlaufen. In dieser Situation waren vorhandene Strukturen enorm wertvoll. Der Sonderforschungsbereich zum Thema angeborene Immunität der Lunge, dessen Sprecher Sie sind, pausierte zeitweilig von seinen originären Aufgaben. An diese Stelle traten Arbeiten rund um SARS-CoV-2.

Menschliches Lungengewebe als Infektionsmodell: Welche Zellen werden infiziert – Tropismus? Welchen Schaden erzeugt das Virus – Virulenz? Hier Infektion mit Influenza (grün). Schnitt durch Lungenbläschen. Die Viren vermehren sich in sogenannten Typ-2-Zellen (Cyan-Färbung). © Andreas Hocke l Charité in: Weinheimer VK et al. J Infect Dis. 2012*

Ausrichtung und Titel des SFBs ‚Innate Immunity of the Lung‘ passen nicht nur zum wissenschaftlichen Interesse unserer Einrichtung. Sie passen auch perfekt zum Virus. Und genau diese Strukturen braucht man, um COVID-19 wissenschaftlich anzugehen. Es gibt alle experimentellen Modelle, zelluläre Modelle, Organoide, es gibt Tiermodelle, und wichtig ist immer ein Zugang auch zu den Patientenproben. Alle analytischen Methoden sind auf der Höhe der Zeit, wie Einzelzell-Sequenzierung, Metagenomik, Bioimaging oder hochauflösende Mikroskopie.

Und es interagieren im Sonderforschungsbereich alle möglichen Disziplinen – von Veterinärmedizin und Pathologie bis Virologie, Immunologie und Mikrobiologen. Bei SARS-CoV-2 hat sich beispielsweise herausgestellt, dass die Maus kein gutes Modell ist. Gemeinsam mit den Veterinärpathologen der FU war sehr schnell klar, es muss der Hamster sein. Wir hatten also breite Expertise durch verschiedene Fächer und wir hatten alle experimentellen Modelle, um sinnvoll zu untersuchen. Statt Influenza und Pneumokokken haben wir Coronaviren draufgegeben. Man musste keine Teams mehr zusammenstellen. Das ist nicht so, wie die Nationalmannschaft zur Stunde null, sondern die Nationalmannschaft steht schon da und wartet auf den Anpfiff.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Einsatz honoriert und dem SFB-TR84 auf Antrag die Förderung für ein zusätzliches Jahr zur Umsetzung der ursprünglich geplanten Arbeiten bewilligt. Welche Forschungsleistung aus der Zeit der Pandemie macht Sie hierbei besonders stolz?

So viel Nature, Nature, Cell, Cell, Lancet, Lancet in so kurzer Zeit – das gab es noch nie. Inhaltlich? Das ist sehr viel und kann man alles nachlesen... Aber, ja, es gab schon wichtige Arbeiten. Beispielsweise konnten wir zeigen, dass die Epithelzelle der Lunge gar nicht primäres Ziel des Virus ist. Besonders betroffen sind die myeloischen Zellen, die Zellen des blutbildenden Systems. Das zeigen umfangreiche Arbeiten auf der Grundlage von Einzelzell-Daten: die Immunantwort ist sehr gut, aber dysfunktional. Das ist wie bei einem deliranten Patienten: sehr aktiv, aber alles ziemlich sinnlos, wenn nicht gar negativ. Es gab auch beispielsweise genau zur rechten Zeit eine gute Impfstudie zu den besten Zeitpunkten der Zweitimpfung. Insgesamt haben wir mit vielen Studien wesentlich zum Verständnis beigetragen, was bei der Abwehrreaktion des Körpers schiefgeht. Dieses Verständnis, wo etwas falsch läuft, führt unmittelbar zu neuen therapeutischen Ansätzen. Zurück zur Problematik der undichten Gefäßwand und wie man das rückgängig macht: Hier konnte unser neuer Ansatz mit dem Adrenomedullin, das die unmittelbaren Zell-Zell-Verbindungen stabilisiert, jetzt direkt auf Intensivstation geprüft werden. Als SFB ist man ja grundlagenorientiert, will Mechanismen verstehen. Wenn man dann aber ein neues therapeutisches Ziel identifiziert – das ist ja ein Traum – dann zieht man es durch alle experimentellen Systeme und schaut, ob es sich bewahrheitet.

Die Strukturen des SFB konnten zum schnellen Erkenntnisgewinn in der Krise beigetragen. Es lohnt sich also, sie vorzuhalten?

Infektionsmodell (HuLu): Influenza-Viren (rot) und MERS-CoV (grün) im Vergleich. Während Influenza auf Typ-2-Zellen beschränkt ist, zeigt MERS-CoV sehr breiten Zell-Tropismus. © Andreas Hocke l Charité in: Hocke AC et al. Am J Respir Crit Care Med. 2013**
Originäres Patientenmaterial, COVID-19: Immunzelle, Alveolarmakrophage (rot), hat eine mit SARS-CoV-2 infizierte Typ-2-Zelle (grün) ‚gefressen‘, um sie zu beseitigen. Weiteres aufgenommenes Virusmaterial (grüne Punkte) führt zur Immunantwort der Zelle. © Andreas Hocke l Charité

Sinnvolle Strukturen vorzuhalten – das wird eine der Lehren der Pandemie sein. Da geht es um S3-Labore, Netzwerke von verschiedenen Disziplinen, Vorhalten und Verfeinern experimenteller Modelle. Ich glaube, vor allem respiratorisch getriebene Pandemie steht jetzt deutlich höher auf der Liste. Zu Anfang einer Pandemie hat man viele Fragen, auch welcher Zelltyp wird infiziert, und so weiter. Wenn man wie wir im SFB-TR84 mit humanen Organoiden oder lebenden humanen Lungenschnitten (HuLus) arbeitet, kann man der Frage viel leichter nachgehen und man kann sie sofort für die Spezies Mensch beantworten. Man kämpft nicht mehr mit den Mensch-Maus-Unterschieden. Wir hatten hier Vorerfahrung über Influenza und MERS. Bei Influenza war immer die Frage, welcher Zelltyp in der Alveole, dem Lungenbläschen, wird infiziert. Hier gibt es Typ-1- und Typ-2-Epithelzellen, aber natürlich auch Endothel und Fibroblasten. Influenza infiziert nur Typ-2-Zellen. MERS, ein Corona-Virus hingegen, infiziert alles querbeet. Wer MERS hat, hat auch eine hohe Sterblichkeit. Diesen sogenannten Zelltropismus von Viren zu klären, also welche Zellen befällt ein Virus, das ist mit den Voraussetzungen unseres Sonderforschungsbereichs schnell gemacht.

Also: Infrastruktur vorhalten und sie in ‚Friedenszeiten‘ zur Forschung nutzen. In Krisenzeiten wird dann die Krise bearbeitet. So stolpert man nicht völlig unbedarft in eine Pandemie. Gedanklich ist das natürlich alles schon einmal durchgespielt worden, als 2003 SARS-CoV-1 aufgetreten war, unter anderem in China, Kanada, vor allem in Toronto, aber auch in Deutschland. Damals dachte ich: Mannomann, wenn das mal gut geht. Schnell wurde aber klar, dass es keine asymptomatisch Infizierten gibt und dass die Eindämmung über das Nachverfolgungssystem greifen wird. In den Folgejahren gab es verschiede Sitzungen und einiges wurde geschrieben. Aber es gibt einfach auch viele Ablagen in Deutschland.

Experten und Kliniker ahnten früh, was auf uns zukommen würde. Was ging Ihnen in diesen ersten Tagen der Pandemie durch den Kopf?

Zunächst: oh je, das kann auch richtig schiefgehen! Es waren ein paar Sachen bekannt, aber noch nicht alle relevanten Fakten, um zur ersten Einschätzung zu kommen. Klar war: das Ding läuft respiratorisch – das ist immer die Variante, die man nicht so gerne hat. Die noch offenen drei Kernpunkte waren: Gibt es asymptomatisch Infizierte? Als die Antwort hier ‚ja‘ war, war klar, was in 2020 passieren würde. Wie ist R0 – wie Viele steckt ein Infizierte an? Sind das eins, zwei, drei oder 15 oder 20? Und zuletzt: wie gravierend ist die Krankheit? Wie viele verbleiben ambulant, wie viele müssen ins Krankenhaus, wie viele müssen auf Intensiv? Wie hoch ist die Sterblichkeit? Heute wissen 80 Millionen Deutsche das alles aus dem Effeff. Ein bisschen irritierend – vor allem für die Politik – war, dass die ersten Fälle in Bayern so harmlos verliefen. Das waren ja alles junge Leute.

Inwiefern unterscheidet sich die COVID-19-Pneumonie? Ist sie etwas Besonderes?

Ja und nein – vieles sind bekannte Muster einer Lungenentzündung. Man musste nicht bei 0,00 anfangen. Aber COVID-19 hat auch Besonderheiten, die andere schwere virale oder bakterielle Infektionen nicht haben. Die Gerinnungsaktivierung ist bei COVID sehr betont. Die hohe Neigung zur Fibrose, sprich zur kräftigen bindegewebsartigen Veränderung in der Lunge – das ist ungewöhnlich. Nach einer Lungenentzündung, wenn alle Viren oder auch Bakterien tot sind, dann bleibt ein ordentliches Schlachtfeld zurück, das erstmal wieder abgeräumt werden muss – wir nennen das ‚resolution and repair‘. Diese Phase erscheint bei COVID-19-Pneumonie gestört – auch hierzu gibt es eine Veröffentlichung in Cell aus dem SFB. In Einzelfällen mussten Patienten direkt von der Beatmung weg lungentransplantiert werden. Vor allem die delta-, aber auch die alpha-Variante führten zu ungewöhnlich langen Beatmungsphasen. Andererseits, im Unterschied zu einer Influenza-Grippe beispielsweise, gibt es in der Regel bei COVID-Pneumonie keine schweren Sekundärinfektionen. Man stand aber nicht vor einer völlig neuen, mysteriösen Erkrankung.

Wie sind Sie der Herausforderung von intensiver Krankenversorgung und intensiver Forschung begegnet?

Na, das ist erstmal viel Arbeit. Für die Charité gesteuert wurde das Entscheidende im Pandemiestab. Viele wichtige Player kamen und kommen hier zusammen – Krankenhaushygiene, Intensivmedizin, Internisten wie mich, arbeitsmedizinischer Dienst, Krankenhausmanagement – um geordnete Verhältnisse zu bewahren. Am Ende müssen alle alles wissen, damit nicht jeder macht, was er will. Gute Kommunikation und klare Verfahrensanweisungen müssen sichergestellt werden. Auf unsere Klinik kam natürlich eine besondere Belastung zu, da COVID ja zum Fach gehört. Extra-COVID-Normalstationen, Ausschluß-Betten, massive ECMO-Belastung. Etablierung Charité-weiter Behandlungsregeln. Wir mussten auch mit dem Instrument Urlaubsperre arbeiten, um der Sache Herr zu werden. Ich musste aber auch dafür sorgen, dass wir noch ein paar Betten übrig haben für Patienten mit HIV plus Komplikation oder Bronchialkarzinom.

Welche Erkenntnisse aus der COVID-19-Forschung bringt möglicherweise die Erforschung anderer Infektionskrankheiten, Immunisierungsstrategien oder Therapien voran? Was bleibt und wie machen Sie nach der Pandemie weiter?

Wenn man die Geschichte der RNA-Vakzine liest, ist man von den Socken. Die geht schon über 30 Jahre und über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben wichtige Beiträge geleistet. Immer wieder taucht der Name der Frau Kariko auf. Der mRNA-Ansatz wird viele Ecken in der Medizin von Infektion bis Tumor erobern. Hygiene, Vakzine und Antiinfektiva – diese drei Prinzipien haben die Lebenserwartung in der westlichen Welt verdoppelt. Jetzt werden wir – wieder – ein Jahrzehnt der Vakzine erleben. Problematische Bakterien und Viren gibt es genug und mRNA wird hier wichtiger werden, aber auch beispielsweise synthetische Glykokonjugat-Impfstoffe gegen Pneumokokken. Ganz ohne Antibiotika wird es trotzdem nicht gehen und die Multiresistenz von Erregern ist das nächste große Thema, das lange bekannt ist, jetzt aber endlich angegangen gehört. Wir haben im Labor vor zehn Jahren mit Produkten von Bakteriophagen angefangen. Bakteriophagen, kurz: Phagen – das sind Viren, die auf Bakterien als Wirt spezialisiert sind –, sind schon lange bekannt. Aber das Potenzial für neue Therapiestrategien ist bei weitem nicht voll ausgeschöpft.

Das dritte große Thema ist die Therapie, die nicht am Bakterium oder Virus ansetzt, sondern am Wirt. Ein richtiger, aber völlig unspezifischer Ansatz in diese Richtung ist das altbekannte Dexamethason. Immerhin hat es die Letalität bei COVID-Intensivpatienten um ein Drittel reduziert. Kortison ist ja bei Lungenentzündung immer ein ‚Loser‘-Thema gewesen. Bei COVID-19 dagegen ist es top und hat Mitte 2020 den Goldstandard geändert. Hätte ich meine hintere rechte Radkappe verwettet, dann wäre sie jetzt weg. Das hätte ich nicht gedacht. Die wirtsorientierte Therapie muss natürlich noch viel, viel präziser werden. Faszinierend finde ich aber auch das Mikrobiom, das sich immer mehr zum ‚Internet des Körpers‘ mausert. Die verschiedenen Mikrobiome reden miteinander – ändere ich es im Darm, ändert sich auch viel in der Lunge. Mikrobiom-Editing, das wird ein großes Thema. Insgesamt gehe ich also nicht nur von einem neuen Jahrzehnt der Vakzineforschung, sondern der Infektionsforschung insgesamt aus. Wenn die alte Zahl stimmt, dass wir zehn Mal mehr Bakterien im Mikrobiom als eigene Körperzellen haben, dann sind wir, dann sind alle Menschen zu 90 Prozent DNA-technisch gesprochen eine Mikrobe. Das sollte zu Bescheidenheit führen. Anstatt als Spezies den nächsten Meteoriten für den Planeten zu spielen, sollten wir uns selbst eher als einen Mini-Mini-Minibeitrag zur Artenvielfalt betrachten. Das führt zu einer besseren Einschätzung – insbesondere unserer Limitationen.

Bescheidenheit ist ein gutes Stichwort. In Ihrer Klinik wie auch in den Arbeitsgruppen ist ein besonderer Geist spürbar: Gemeinsam bewegen wollen, kooperativ, kreativ, hochmotiviert, interdisziplinär denkend. Die COVID-19-Pandemie hat Ihren Bereichen besondere Leistungen abgefordert – vielleicht wären sie ohne ein solches Zusammenstehen gar nicht möglich gewesen. Welche Voraussetzung braucht ein solches Klima?

Ich habe mich schon vor 40 Jahren von dem Gedanken getrennt, dass ich immer die besten Lösungen parat habe. Daher gebe ich immer viel Freiheit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind kreativ, haben häufig die bessere Idee. Aber ich schaue auch hin. Machen lassen und nicht hingucken – das ist ‚es einfach treiben lassen‘. Das geht nicht. Ich bin kein General, der die Truppen ordnet oder der Typ, der Vorgaben macht und dann den Kontrolletti spielt. Es hilft, gut mentalisieren zu können. Die Einstellung von ärztlich-wissenschaftlichen Personen ist immer Chefsache, das darf man nicht delegieren. Die Mitarbeiter müssen, na klar, qualifiziert sein und noch viel wichtiger: sie müssen zum Team passen. Ein Hochqualifizierter ohne große soziale Kompetenz – das ist das Ende des Bewerbungsgespräches. Ein zweites Prinzip ist höchstmögliche Transparenz. Heute habe ich in der Pandemie meine, ich glaube, 125. Rundmail an die Mitarbeiter geschrieben. Alle müssen alles wissen und es darf nie der Eindruck entstehen: da sagt einer A, meint aber B. Die Infektiologie und Pneumologie ist eine sehr große Klinik und ja, ich bilde mir ein, dass das Betriebsklima bei uns stimmt. Ganz ehrlich, das war auch spielentscheidend, sodass die Klinik die Extrabelastungen in diesen Zeiten stemmen konnte. Ich bin nur der Chef, die Mitarbeiter hatten all die Extraarbeit.

Teil Ihres Erfolgsmodells?

Allemal.

In diesem Sinne denken Sie bereits an Ihre Nachfolge?

Vorweg: der Vorgänger hat mit den Nachfolgern am Wenigsten zu tun – alles andere wäre eigenartig. Aber man kann strukturell vorgreifen: Infektiologie und Pneumologie, inklusive der internistischen Intensivmedizin – das sind per se schon sehr große Fächer. Die Zeiten sind schon lange vorbei, in denen ein Chef mit abhängigen W3- oder ‚nackten‘ W2-Professuren arbeitet. Beide Fächer müssen sich weiterentwickeln – selbstständig, aber zugleich zusammen. Mein Punkt also: Hey, sollen wir hier nicht aus der sehr großen Infektiologie-Pneumologie-Klinik ein Department machen, mit vorerst zwei W3-Lehrstühlen und zwei Kliniken unter einem Dach? Das schafft ideale Gestaltungs- und Wachstumsbedingungen. Voraussetzung: die Beteiligten müssen sich dabei natürlich gut verstehen.

Sie sagten zu Anfang, Sie seien eigentlich kein richtiger Hochschullehrer. Dabei haben Sie doch sehr konkrete Vorstellungen davon, wie Universitätsmedizin gelingen kann. Wie kommt die Aussage zustande?

Wie Universitätsmedizin gelingen kann? Na ja, in einem Interview legt man eher die Juwelen ins Schaufenster und weniger die Hosenknöpfe... Aber zurück zur eigentlichen Frage: Ich komme nicht aus der akademischen Welt. Dort hat man ja schon bei der Geburt mehr als die Hälfte des Weges geschafft. Der Sohn des Arztes oder die Tochter des Apothekers werden in einer Welt groß, die ich nicht kannte – das fängt schon bei Gymnasium und Uni an. Mein Vater war Waldarbeiter und meine Eltern hatten nebenbei einen 5 Hektar-Minihof mit 5 Kühen, 10 Schweinen im Münsterland. Sie konnten nur plattdüütsch. Meine Frau lebte zeitgleich als Kind in Ostberlin in einer „Platte“ und ist im Vergleich zu mir in Saus und Braus großgeworden. Wenn man in die akademische Welt geboren wird, übernimmt man alle Werte und Rituale automatisch. Bei jedem meiner Entwicklungsschritte und Milieuwechsel habe ich beobachtet: man verlässt das Alte nicht ganz, und bei dem Neuen schaut man sich genau an, was wertvoll ist oder was nicht. Bei jedem Übergang ist man somit auffällig, entweder als bunter Hund, im negativen Falle als eine Art Parvenü. Ich bedaure das nicht, ich stelle nur fest. Und es lauern auch viele gläserne Decken. Das ist empirisch gut belegt. Stimmt, ich denke nicht wie das Klischee eines Professors, ich rede nicht so, ich kleide ich mich nicht so und bei den meisten Studenten bin ich der Prof. Adidas, meiner T-Shirts wegen. Ich gelte als eher „very outspoken“, einer der sagt, was er denkt. Innere Unabhängigkeit ist mir wichtig. Daher ich nehme für die Forschung ausschließlich Geld von der DFG, der EU oder vom BMBF. Da verliert man auch Freiheit, vor allem, wenn ein Ministerium inhaltliche Vorgaben macht – das ist aber insgesamt für mich noch vertretbar.

Inspirare, das Einatmen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Lungenfunktion. Was inspiriert Sie immer wieder bei Ihren Arbeiten? Wie schöpfen Sie Kraft?

Na, die Charité zerrt schon an einem. Hier kann man gar nicht dick werden. Abends muss man die Charité schnell aus dem Kopf bekommen. Ich laufe dreimal die Woche 10.000 Meter – noch – unter einer Stunde. Nach einem Lauf muss ich immer sofort mindestens ein halbes Dutzend neue Sachen aufschreiben. Weil mir dann Projekte einfallen, weil ich da einfach gute Ideen habe. Wenn man beim Lauf so richtig im ‚Jumm‘ ist und das Hirn im ‚free floating‘-Modus, dann kommen die besten Gedanken.

Professor Dr. Norbert Suttorp

Der gebürtige Westfale studierte Medizin in Münster und Gießen. 1979 promovierte er zum Thema akutes Lungenversagen. Im Anschluss arbeitete Norbert Suttorp von 1980 bis 1982 als post-doc Research Fellow an der Stanford Universität in Palo Alto, Kalifornien, USA. Den Facharzt für Innere Medizin erwarb er 1990. Im selben Jahr erfolgte die Habilitation, für die er den Universitätspreis sowie den Frey-Preis der Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin erhielt. Von 1993 bis 1998 hatte Norbert Suttorp eine C3-Stiftungsprofessur des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft inne. 1999 wurde er auf den einzigen deutschen C4-Lehrstuhl Infektiologie berufen und ist seitdem auch Leiter der an allen Standorten vertretenden Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité. Seit 2016 ist er ärztlicher Leiter von CC12. Prof. Suttorp ist Gründungsmitglied und Stiftungsratmitglied des bundesweiten medizinischen Kompetenznetzwerkes Pneumonie „CAPNETZ“, das vom BMBF gefördert wird. Außerdem ist er Sprecher des bundesweiten BMBF-geförderten Netzwerkes „PROGRESS“, in dem genetische Faktoren für schwere Lungenentzündung und der Übergang in die Sepsis ermittelt werden. Seit 2016 ist er Ko-Sprecher des bundesweiten BMBF-geförderten CAPSyS – da geht es um Pneumonie und Systemmedizin. Prof. Suttorp ist Mitglied zahlreicher amerikanischer und deutscher Gesellschaften sowie Reviewer für Nature Immunology, Nature Medicine, J. Clinical Investigation, J. Immunology, Infection and Immunity, Amer. J. Physiology, etc. Er ist Fachgutachter für das BMBF und war 8 Jahre lang Mitglied von zwei Fachkollegien bei der DFG.  Seit 2000 ist er Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, seit 2003 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und seit 2008 Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Innate Immunity of the Lung: Sonderforschungsbereich/ Transregio 84

Antibiotikaresistente Keime oder auch neuartige pandemische Viren wie SARS-CoV-2 erhöhen die Bedrohung durch lebensgefährliche Lungenentzündungen. Der bereits im Jahr 2010 gestartete SFB-TR84 „Innate Immunity of the Lung: Mechanisms of Pathogen Attack and Host Defence in Pneumonia“ hat zum Ziel, die Wechselwirkungen zwischen solchen Krankheitserregern und ihrem Wirt sowie die sich daraus ergebene Infektion und Entzündung der Lunge zu ergründen. In Kollaboration mit der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Philipps-Universität Marburg untersucht der SFB, wie Erreger erkannt werden, um die Immunantwort zu starten, welche Rolle antimikrobielle Antikörper und Immunzellen dabei spielen und wie diese Moleküle und Zellen für die Behandlung sowie für die Vermeidung einer Lungenentzündung gezielt genutzt werden können. Während der COVID-19-Pandemie mussten die meisten der ursprünglich geplanten Arbeiten ruhen. Sie wurden umgestellt und die vorhandenen Systeme genutzt, um schnell auf veränderte Fragestellungen durch das SARS-CoV-2-Virus zu reagieren. Auf diese Weise konnte ein substanzieller Beitrag zur Erforschung der Grundlagen und Therapieoptionen von COVID-19 erbracht werden. Eine Vielzahl hochkarätiger Publikationen in kürzester Zeit zu COVID-19 ist aus dem SFB heraus entstanden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat im Nachgang reagiert und einen Antrag auf Förderung um ein weiteres Jahr bewilligt. Damit ist der SFB/TR84 der erste in der DFG-Geschichte, der nun über 13 Jahre bis Ende 2023 gefördert wird.                


*Weinheimer VK et al. Influenza A viruses target type II pneumocytes in the human lung. J Infect Dis. 2012 Dec 1; 206(11):1685-94. PMID: 22829640
**Hocke AC et al. Emerging human middle East respiratory syndrome coronavirus causes widespread infection and alveolar damage in human lungs. Am J Respir Crit Care Med. 2013 Oct 1;188(7):882-6. PMID: 24083868.

Titelfoto: Professor Dr. Norbert Suttorp. Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie. Interview: Anne Mertens, Februar 2022